Pass bloß auf deinen Daumen auf!

Manchmal begegnet man in Bilderbüchern der eigenen Kindheit wieder. Auf alte Bücher, mit denen wir vielleicht selber aufgewachsen sind, trifft das immer wieder zu. Bei Neuerscheinungen ist das eine Seltenheit. Dieses Buch hier ist ein kleiner Goldschatz und auf jeden Fall eine Rarität am aktuellen Kinderbuchmarkt.

Anders als die anderen hebt es sich mit klaren Worten und einer punktgenauen Message wohltuend ab. Es geht um Beleidigungen, Beschimpfungen, Gewalt zwischen Kindern, Größere gegen Kleinere, vielleicht kann man es als Mobbing oder Bullying definieren, die konkrete Bezeichnung ist im Grunde egal. Es ist jedenfalls kein oder Konflikt zwischen Gleichaltrigen, sondern eine anhaltende Schikane der älteren Jungs, der Mimi regelmäßig in der Schule und am Schulweg ausgesetzt ist. Sie wird beschimpft, ihre Sachen landen im Müll, sie wird von einer Gruppe Buben geschupst, und so versteckt sich Mimi in den Pausen am Klo, um keinen Ärger zu bekommen.

Die Handlungsanleitung, die wir im Buch, das vom Verlag ab 5 Jahren empfohlen wird, vorfinden, ist eine simple; so auch die schnörkellose Bildsprache, die gut und gern als durchgehen würde. Mimis Opa sagt: “Wenn er dich wieder angreift, schlag ihm mit der Faust auf die Nase, zwischen die Augen.” Opa war früher Boxer und er weiß, von was er spricht. Er zeigt Mimi, wie man eine richtige Faust macht, damit man sich den Daumen beim Zuschlagen nicht verletzt. Er klärt sie auch über die Konsequenzen ihres Handelns auf: “Wenn du die Nase triffst, wird sie bluten. Der Junge wird einen Schreck kriegen und dich für immer in Ruhe lassen.”
Opa gibt Mimi damit eine wichtige Information mit auf den Weg, denn Maß und Ziel sind beim Boxen genauso relevant wie bei der Selbstverteidigung in Stress-Situationen.

Peng. Peng. Ein Kinderbuch, das nicht mit dem moralischen Zeigefinger wackelt. Es schreit nicht: Keine Gewalt, wenn du geschlagen wirst, wende dich an einen Erwachsenen, lass dir helfen, regle es nicht für dich selber, Worte sind mächtiger als Taten, Gewalt ist böse, Zurückschlagen ist keine Lösung. Nie. So der Tenor in der einschlägigen Kinderbuchliteratur der letzten Jahre. Pädagogisch wertvoll, aber nicht unbedingt alltagstauglich und selten passend für die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Am Schulhof, auf der Straße oder im Park geben oft die Stärkeren den Ton an und auch, wenn es Erwachsene nicht wahr haben wollen: Diese Formen der Gewalt sind in der Regel durch bemühtes Engagement, Kinder- und Jugendarbeit oder Anti-Gewalt-Trainings nicht einfach wegzuzaubern. Und manchmal ist es auch angesagt, sich seiner Angst zu stellen, um sie zu besiegen, zu gewinnen und so den Kreislauf zu durchbrechen, der die einen zu Opfer und die anderen zu Täter_innen macht.

Wir sagen: Es gibt nie nur die eine Lösung. Es gibt nie nur richtig und falsch. Manchmal ist eine Faust eine Lösung – nicht für alle Situationen, nicht für alle Menschen, aber Gewaltfreiheit als Allheilmittel in einer gewalttätigen Welt zu predigen halten wir – wenig überraschend – für falsch.

Und da ist sie: Die Erinnerung an die eigene Kindheit. Denn dieses Buch triggert Kindheitserinnerungen. Vielleicht war es nicht der Opa, der eine_m gesagt hat, wie man eine richtige Faust machen soll, sondern eine andere erwachsene Vertrauensperson. Vielleicht war diese eine Ermächtigung die Handlungsanleitung, um Ohnmachtsgefühlen und Demütigungen selbst ein Ende bereiten zu können. Das ist Empowernment. So lernen Kinder und Jugendliche Selbstermächtigung für sich zu begreifen und anzuwenden. Denn es geht weder im Buch noch in der Realität darum, nie wieder Angst zu haben, sondern um eine weitere Möglichkeit sich in bestimmten Situationen zur Wehr setzen zu können.

Gewalt ist keine Lösung. Aber manchmal ist sie ein notwendiges Mittel, um sich gegen Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Misshandlungen zu verteidigen. Kinder unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um sie in dieser gewaltvollen Welt zu bestärken ihren eigenen Weg zu gehen, sehen wir (auch) als Aufgabe von emanzipatorischer Kinderliteratur.

Was die 5jährige R. zum Buch sagt: “Ich weiß auch schon, wie man eine richtige Faust macht. Das weiß ich schon seit langem. Damit ich kämpfen kann, wenn es sein muss. Das gefällt mir am Buch und dass der Opa mit ihr Boxen übt.”

Wir können uns da nur anschließen.

Elena Prochnow: “Pass bloß auf deinen Daumen auf!” (Edition Pastorplatz, 2021), € 14,40

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