Ein Ort für meine Traurigkeit


Das Bilderbuch “Ein Ort für meine Traurigkeit” ist bereits auf den ersten Blick sehr berührend. Auf dem Cover sieht man eine Person, es wird im Buch aus der Ich-Perspektive erzählt und somit und Alter offen gelassen, die Hand in Hand mit der personifizierten Traurigkeit geht. Die Traurigkeit wird dabei nicht als etwas Monströses dargestellt, vor dem man Angst haben muss, sondern ein -vielleicht- treuer Begleiter, der weder gut noch böse sein muss. Denn Traurigkeit ist ein Gefühl, wie jedes andere auch, dass uns in unserem Leben immer wieder begegnet. 

Konkret ist die Traurigkeit ein ovales Wesen, ähnlich einer Tropfenform, mit Armen und Beinen, einem freundlichen Gesicht und im halbtransparenten Körper aus hellblauen Linien trägt es ein leuchtend rotes Herz.

Im Vorwort wird die jüdische Niederländerin Etty Hillesum (*1914, ermordet 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau) zitiert, die die Autorin Anne Booth zum Buch inspirierte:
“Gib deiner Traurigkeit den ganzen Raum und in die, der ihr gebührt. Denn wenn jeder offen und ehrlich und somit mutig trauert, wird das Leid, dass die Welt erfüllt, nachlassen. Wenn du stattdessen den größten Teil deines Inneren mit Hass und Rachegedanken belegst – aus dem immer weiterer Kummer entsteht – dann hört das Leid dieser Welt niemals auf.”.

“Eines Tages kam die Traurigkeit zu mir und ich habe beschlossen ihr ein Zuhause zu geben” (Seite 2), lautet der erste Satz des Buches. Es wird nicht näher darauf eingegangen, was der Anlass für die Traurigkeit ist. Ob es ein konkreter Anlass ist/war, oder das Gefühl an sich. Als Leser*in/Rezipient*in lässt die Formulierung sehr viel Raum für Interpretationen um sich selbst wiederzufinden. Für das Vorlesen ist hier ein großes Potenzial das Buch anlassbezogen zu nutzen, beispielsweise zur Trauerverarbeitung, Trennung, thematisieren von Depression etc, oder um über Trauer als ein legitimes Gefühl wertschätzend zu sprechen.

“Meiner Traurigkeit baue ich eine Wohnung und heiße sie dort herzlich willkommen” (Seite 5)

Das Buch kommt mit sehr knappen Text aus, wobei immer mehrere Möglichkeiten erwähnt werden, um die Traurigkeit, oder das was sie ist und tut, zu beschreiben. In der Wohnung die sie bekommt kann sie alles sein und tun – sehr, sehr laut, still, ganz zusammengerollt, riesig groß, still sitzen, herumliegen, … oder irgendwas dazwischen (Seite 6f).

Auch die Wohnung der Traurigkeit in mir wird so beschrieben, dass zwar Bilder hervorgerufen werden, die helfen können sich diese Metapher vorstellen zu können, es wird aber auch hier wieder eingeräumt, dass die Traurigkeit möglicherweise das Bedürfnis nach viel Licht hat, oder Finsternis, gerne die Sterne sehen möchte oder an anderen Tagen die absolute Stille bevorzugt. Die Beschreibung der Wohnung und der Bedürfnisse der Traurigkeit lässt wieder Raum für Interpretationen. Einerseits das Bedürfnis der Traurigkeit als Beschreibung dessen, was ich brauche wenn ich traurig bin. Aber auch, dass es ok ist, die Traurigkeit Traurigkeit sein zu lassen und ihr nicht immer allen Raum geben zu müssen. Sie ist an einem Ort, den man besuchen kann wenn man Bedürfnis hat mit ihr Zeit verbringen zu wollen, aber man braucht auch kein schlechtes Gewissen zu haben, zb bei einem Todesfall, nicht nur traurig zu sein (Seite 28f). 

Auf Seite 14 wird das nochmal beschrieben mit “Es ist schließlich das Zuhause meiner Traurigkeit und sie hat das Recht, dort zu sein. Ich werde ihr diese Wohnung ganz stabil bauen, sodass die Traurigkeit vor Stürmen im Winter sicher ist.”. Diese Seite erscheint sehr zentral, denn es wird unterstrichen, dass Trauer kein Gefühl ist, das man loswerden muss, sondern sie Berechtigung hat hier zu sein, sie vielleicht etwas (Selbst)Fürsorge benötigt und dann auch alleine sein kann.

In der ersten Hälfte wird die Traurigkeit und ihr Zuhause beschrieben, in der zweiten Hälfte die Beziehung der Erzählerstimme und der Traurigkeit. 

“Hin und wieder werde ich meine Traurigkeit jeden Tag besuchen. Sogar jede Stunde wenn nötig.” (Seite 25)

Die Zeit gemeinsam mit der Trauer wird dabei nicht als etwas beschrieben, vor dem man Angst haben muss, sondern etwas das zwar sehr intensiv sein kann (“Manchmal werden wir uns entgegenlaufen und in die Arme fallen und uns festhalten und und reden …”, Seite 26), aber nicht muss (“… und ein anderes Mal sitzen wir einfach nebeneinander und sagen nichts. Gar nichts.”, Seite 27). 

Einen erzählerisches Bruch gibt es auf der letzten Doppelseite des Buches. Hier wird erzählt, dass, “eines Tages werden wir in die Welt ziehen und entdecken, wie schön die ist. Gemeinsam.”. Persönlich hatte ich die Geschichte bis zu diesem Punkt schon so empfunden, dass man auch Zeit gemeinsam verbringt und so die Welt entdeckt.

Diese Wendung suggeriert möglicherweise, dass die Trauer überwunden wird. Mich lässt sie etwas ratlos zurück. (Ich würde aber auch nicht ganz ausschließen, dass Nuancen in der Übersetzung verloren gingen).

Alles in allem ist es ein wunderbar wertschätzendes Buch gegenüber einer Emotion, die gesellschaftlich oftmals ein Tabu darstellt. Ich konnte mich als erwachsene Leserin sowohl im Kontext der Trauerarbeit nach einem Todesfall wiederfinden, aber auch dem Umgang mit Trauer im Kontext von Depression oä.

Anne Booth (Illustrationen: David Litchfield) 2021: Ein Ort für meine Traurigkeit, Gabiel Verlag, € 15,00 (Hardcover)


Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.