Pirouetten

Mit Eislaufen hab ich nix am Hut. Also vielleicht 2x jeden Winter am Rathausplatz ein paar Runden drehen oder mit dem Kind zum Spaß ein bisl Eisrutschen. Aber da mich Leistungssport wirklich gar nicht interessiert, und Eiskunstlauf – eigentlich seit dem ich denken kann – zu den für mich langweiligsten Sportarten der Welt gehört, vor allem auch zum Zusehen, war ich speziell und positiv überrascht. Mehr noch: Ich konnte das fast 400 Seiten starke Buch kaum mehr weglegen und las es in Einem durch. Fesselnd, packend, traurig, schockierend.

Eine Coming-of-Age-Story und der 23jährigen Autorin und Comiczeichnerin Tillie Walden, in dessen Leben lange nur der Eiskunstlauf zählte. Sie trainierte seit ihrem 5. Geburtstag hart, besessen, täglich, über ihre Grenzen hinaus. Doch weder am Eis noch in der restlichen Welt fühlt sie sich zugehörig, Freund_innen gibt es wenige, die Schule ist schwierig, kommt vor, eine lieblose Mutter-Tochter-Beziehung, die Suche nach Anerkennung über den Erfolg beim Eislauf.

Oft spielt bei Leistungssport der Ehrgeiz und Drill der Eltern die entscheidende und größte Rolle auf der Jagd nach den Pokalen und immer größeren Erfolgen. Nicht bei Tillie – denn zu Beginn ihrer Eislaufkarriere suchte sie vor allem die Nähe zur Trainerin, die ihr Geborgenheit und Liebe vermittelte. Diese Suche, eine Suche nach Anerkennung über ihre Leistung am Eis, zieht sich durch ihre Leben wie ein roter Faden, und wird oft bitter enttäuscht. Drill, Schikanen, Grenzüberschreitungen oder rohe Gewalt sind für die allermeisten im Profisport keine Neuigkeit. Da gehören Erfahrungen dieser Art oft als eine Art trauriger Nebenschauplatz zum Geschäft dazu. Das wissen wir aus Schi-Internaten, Ballettakademien und anderen Kaderschmieden. Weil überall dort, wo junge Leute zu Höchstleistungen angetrieben werden, nicht selten die bedürfnisorientierte und liebevolle Förderung der Kinder massiv auf der Strecke bleibt.

In leisen Tönen erzählt die Graphic Novel aber nicht nur vom Eislaufen mit seiner inszenierten und übertriebenen Weiblichkeitsperformance, sondern vom Coming Out der Protagonistin Tillie, die früh erkennt, dass sie sich zu Mädchen hingezogen fühlt. Ihr Outing stößt im prüden Texas nicht unbedingt auf großes Wohlwollen, sondern mehr auf Ablehnung und Hass, doch es gibt neben dem unterstützenden Vater auch andere Mitstreiterinnen, die auf Tillies Seite stehen und sie in ihrem Weg bestärken, der sich vor allem in Richtung Kunst wendet.

Daneben findet sich auf der Metaebene Platz für eine allgemeine Kritik an der sexistischen Inszenierung mit kurzen Röckchen, tonnenweise Make-up, perfekten oder dem absurden Verbot von Unterwäsche. Die einzelnen Kapitel tragen die Namen von unterschiedlichen Sprüngen, und fassen in ihrer Komplexität Tillies Struggle gut zusammen: Denn technisch beherrscht sie ihren Körper und weiß, wie es geht. Die Frage ist immer, ob sie das Selbstvertrauen und den Mut aufbringt, den jeweiligen Sprung, das Abheben vom Boden, auch durchzuziehen. Eine gelungene Mischung und ein grausiger Einblick in eine Welt, in der kein Kind aufwachsen sollte. Umso schöner (Spoiler!!), dass Tillie am Weg ins Erwachsenenleben ihre Suche nach Selbstbestimmung, Sinn und Liebe offenbar gefunden hat.

Einziger Schönheitsfehler am Werk: Der Kostenpunkt. Mit 29€ schon wirklich sauteuer. Aber gut. -Preisklasse eben.

Tillie Walden: Pirouetten (REPRODUKT) – Ab ca. 14 Jahren

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