Sanctuary – Flucht in die Freiheit

Endlich wieder mal ein Jugendbuch und dann gleich dieses hier – mit einer ausführlichen Triggerwarnung zu Beginn, denn die Lektüre verstört nachhaltig, streckenweise bleibt beim Lesen die Luft weg, sich breit und ein Gefühl der Ohnmacht, denn: Die meisten Menschen, die auf der sind, kennen Erfahrungen, die die 16jährige Hauptprotagonistin Vali durchmachen muss. Und wir, in Mitteleuropa geboren, mit Pass und gesichertem Aufenthalt, wissen sehr genau, was vor den Toren der Festung Europa oder auch an der mexikanischen Grenze passiert.

Der Vater von Vali ist bei der Deportation ermordet worden, die Mutter geschnappt und an einen unbekannten Ort verschleppt, ertrunkene Kinder, grausame BeamtInnen, eingesperrt sein in Kühllastern, unendlich lange Fussmärsche, Hunger, Durst, Gewalt, Schusswechsel, Bedrohungen durch Menschenhandel, Zwangsprostitution oder sexualisierte Übergriffe, keine Gnade, kein Erbarmen. Ständige Angst, Rassismus, Ausbeutung, das Gefühl nie sicher sein zu können und niemanden zu vertrauen.

Wir befinden uns in den USA im Jahr 2032: Alle Menschen haben statt Personalausweis oder Reisepass einen implantierten Chip am Handgelenk, der routinemässig und überall kontrolliert wird – egal, ob in der Schule, im Supermarkt oder am Beginn oder Ende einer Busfahrt. Es ist somit also unmöglich undokumentiert und ohne Papiere zu leben, und doch finden Menschen Mittel und Wege: Valis hat zum Teil gefälschte Implantate und schlagen sich so halbwegs durch, doch dann funktioniert der Chip von Valis Mutter nicht mehr. Außerdem die Regierung gnadenlos Jagd auf alle Undokumentierten und so müssen Vali, ihr kleiner Ernie und ihre Mutter aus dem Bundesstaat Vermont fliehen. Erklärtes Ziel ist Kaliformen, wo als einziges Bundesland die Tore für geflüchtete Menschen offenstehen, die US-Regierung allerdings einen riesigen Zaun inklusive Landminen um deren Grenzen errichten lässt.

Neben der unerträglichen Situation, der Vali und ihr ausgesetzt sind, findet auch noch das Thema Klimawandel schonungslos Eingang in die Handlung, trostlose, verbrannte Landstriche, ausgetrocknete Flüsse oder überflutete, sumpfige und stinkende Ebenen säumen ihre Flucht.

Ein Jugendbuch ab 14 Jahren, das aufgrund der Intensität und Heftigkeit nicht leichtfertig empfohlen oder gelesen werden sollte, schon gar nicht im Zwangskontext Schule. Zu verstörend sind die Bilder, die auftauchen und zu real ist die an sich fiktive Story. Im Nachwort der beiden Autorinnen berichten diese, dass ihre Erzählung beim Schreiben immer wieder von der Realität eingeholt wurde. Und auch, wenn selbst der Klappentext oder manche Rezensionen diesen Roman als Dystopie bezeichnen, so ist er es mit Blick in die aktuellen Nachrichten nicht (mehr). Wir leben längst mitten in dieser beängstigenden Realität, in der Menschen ohne gültige Dokumente weniger wert sind als Waren, die es im Supermarkt zu kaufen gibt.

Vali und ihrem gelingt es nach den Strapazen der in Kalifornien Zuflucht zu finden, doch Vali bleibt rat- und rastlos zurück: So viele, die es nicht geschafft haben, so viele, die noch auf der Flucht sind, so viele, die es noch sein werden. Was tun? Wie helfen? Eine Frage, die nicht nur Vali, sondern die ganze Welt beschäftigen sollte.

Paola Mendoza & Abby Sher: Sanctuary – in die Freiheit (Carlsen, 2021), €15,50

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