Anna ist 15 und kommt gerade erst wieder aus ihrem Depri-Loch heraus. Ihr Vater starb kürzlich an Krebs, die Mutter versinkt nach wie vor in der eigenen Trauer, Berlin wirkt grau und trist. Einzig Kayla, die beste Freundin, ist geblieben und setzt alles daran, Anna mittels Unternehmungen und Familienessen bei sich zuhause aus der Reserve zu locken.
In den Öffis stossen die beiden auf eine Gruppe junger Männer, die eigenartig singen und Flugzettel mit arabischen Schriftzeichen und pathetischen Aussagen verteilen. Kayla, selbst gläubige Muslima, ist über deren Auftreten sichtlich erbost und wundert sich infolge dessen noch viel mehr, als Anna beginnt, sich für den Islam zu interessieren. Über Facebook kommt sie in Kontakt mit einem jungen IS-Kämpfer in Syrien und verliebt sich in Abu Salman. Er versteht ihre Ängste und Sorgen, den Stress mit der Mutter, drängt immer wieder darauf, im Koran zu lesen und beschreibt sein Leben in Raqqa als wundervolles Abenteuer, das er nicht missen möchte. Klar, er bekämpft die Ungläubigen und seine Sprüche klingen anfangs auch für Anna radikal und zu heftig. Doch nennt Abu Salman sie Baby oder Löwin, umwirbt sie, und spricht von Heirat, will sie beschützen und jeden Tag neben ihr aufwachen. Anfangs geht es Anna zu schnell, doch sie verliebt sich in seine, für sie nur über whatsapp und Skype sichtbaren, schönen Augen. Sie studiert intensiv im Koran, besucht das Freitagsgebet und beginnt Kopftuch zu tragen. Zunehmend ist für sie der Islam ein sicherer Hafen, das Vertrauen auf Gott erleichtert und erklärt den Verlust des geliebten Vaters, denn Allahs Wille darf nicht angezweifelt werden. Der Glaube gibt ihr somit den dringend benötigten Halt, die Liebe von Abu Salman, dem gutaussehenden IS-Rockstar, stärkt ihr Selbstvertrauen und nährt den Wunsch weg aus Berlin zu gehen und mit der großen Liebe in Syrien zu leben.
Anna wirkt verunsichert, naiv und etwas verloren in dieser Welt. Aus ihrer Sicht wird der Roman erzählt und manchmal wundert man sich beim Lesen, dass sie trotz bester muslimischer Freundin keinen Tau von deren Religion oder Politik im Allgemeinen zu haben scheint. Doch vor allem die heftige schwärmerische Verliebtheit und die Begeisterung für die einfachste Antwort auf alle Fragen des Lebens – Allah ist groß und allmächtig – machen das Buch so authentisch. Es ist in seiner mitreissenden Schilderung nah an der Lebensrealität von radikalisierten Jugendlichen dran und beschreibt in einer Art spiralförmigen Sog die Motivation dieser Menschen, für den mörderischen Daesh in den Krieg zu ziehen und dort sein Leben zu lassen.
Da in den meisten Diskursen zum Thema Mädchen und Frauen meist nur am Rande erwähnt werden, freue ich mich ausdrücklich über diesen Roman. Vom Verlag ab 12 empfohlen, ich kenne aber, ehrlich gesagt, wenige Jugendliche, die sich in dem Alter bereits mit diesem Thema auseinandersetzen wollen. Aufgrund der stimmigen Recherchen und der vielen Infos rund um die Anwerbung und Ausreise von Jugendlichen für den IS eine sehr lesenswerte Lektüre für interessierte Jugendliche, aber auch für alle, die mit eben diesen leben und arbeiten.
Auch in Österreich sind junge Frauen und Männer aus religiöser Überzeugung, aus Fanatismus und/oder einer scheinbaren großen Liebe nach Syrien gereist. Wer diesbezüglich mehr Infos, Unterstützung und Beratung braucht, kann sich vertraulich an die Beratungsstelle Extremismus wenden. Und Jamal al-Khatib hat dazu auch einiges zu sagen.
Claudia Rinke: Die Braut – Radikal verliebt (PLANET!)