Kinderbuch von Erich Mühsam: Billys Erdengang

Vorliegendes Werk ist vor allem eins: Ein bedeutendes Zeitdokument und allein deshalb freut mich dessen Neuauflage mehr als 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung.

Die Autoren sind beide ebenfalls eine kleine Besonderheit: Der Anarchist Erich Mühsam, von den Nazis bereits 1934 im KZ Oranienburg ermordet, schrieb die Knittelverse gemeinsam mit Hanns Heinz Ewers. Der Schriftsteller und Filmemacher, der später zu führenden NSDAP-Mitgliedern Kontakte hatte, selbst Parteimitglied wurde und im Auftrag der NS-Propaganda einen Horst-Wessel-Roman schrieb, war damals – genauso wie Mühsam – Künstler und Teil der Berliner Bohème und genauso ist auch das Kinderbuch der beiden einzuordnen: Ein Produkt seiner Zeit, durchaus spannend, offenherzig und liberal, vielleicht nicht unbedingt ein Geschenk für Kinder, sondern eher ein Kuriosum und witziges Bilderbuch für Erwachsene.

Zum Beispiel auch wegen folgender Zeilen, bei deren Erdenkung sich die beiden Autoren sicherlich auch den ein oder anderen Dattelwein gegönnt haben, so steht es jedenfalls in der Einleitung.

Jedoch der gute Dattelwein
Stieg ihnen in den Kopf hinein.
Er war auch wirklich sehr zu loben!
Die Stimmung wurde stark gehoben,
So daß recht angeheitert war
Zuletzt die ganze Hochzeitsschar.
Und unter Tischen, Bänken, Stühlen
Die Gäste durcheinanderfielen.

Zu Beginn des Buches gibt es ein klärendes Vorwort, das auch auf die Prügelszene eingeht, in der der kleine Elefant Billy, der Hauptprotagonist des Buchs, vom Pavian mit dem Rohrstock gezüchtigt wird. In der Geschichte begleiten wir Billy von seiner an durch Schule, Wander- und Lehrjahre, der ersten Liebe, Hochzeit, weiteren Reisen und zum Schluß – wie könnte es anders sein – der Geburt des ersten Kindes. So weit so wenig spannend.

Zwei Dinge an der Story, die für ein aus dem Jahre 1904 schon etwas außergewöhnlich sind: Billy, der Elefant, verliebt sich in eine Giraffe, Dolorosa, und bekommt mit ihr einen kleinen Giraffoelefant. Gegen diese Verbindung erhebt niemand Einspruch, im Buch ist es das normalste der Welt. Das ist zweifelsohne cool – heute und 1904 erst recht, wo bereits aus einigen Ecken die Reinheit der Rassen gepredigt wurde.

Außerdem kommt die Erzählung erfreulicherweise ohne Kolonialismus aus, ohne Abwertung der anderen in den fernen Ländern, die bereist werden, ohne Exotismus oder Paternalismus. Erstaunlich und spannend zugleich – warum schaffen das einige Kinderbücher heute, im Jahr 2018, noch immer nicht. Wenn auch klar sein muss, dass Elefant, Pavian oder nur deshalb den Autoren in Mitteleuropa bekannt waren, weil eben diese durch die kolonialistischen Unterwerfungsfeldzüge irgendwann in europäischen Zoos landeten.

Fazit: Ein Muss für alle Mühsam-Fans und ein spannendes Werk, mit dem durchaus passend Kindheit und Jugend von vor 100 Jahren mit heute verglichen werden kann.

Erich Mühsam, Hanns Heinz Ewers, Paul Haase: Billy’s Erdengang – Eine Elephantengeschichte für Kinder (Walde + Graf)

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