Der Überzählige

Autorin Christine Nöstlinger starb im Juni 2018; ihr Vermächtnis sind u.a. eine Tonne schönster Kinder- und Jugendbücher, die nicht nur mich, sondern ganze Generationen junger Lesender geprägt haben. Umso mehr freut es mich über ihr posthum erschienenes Buch “Der Überzählige” schreiben zu dürfen. Der Verlag empfiehlt es ab 5 Jahren, was ich für sehr früh halte, denn der historische Kontext ist mehr als komplex. Das Buch bedarf meiner Meinung einer Einbettung in eben diesen, aber genau deshalb ist es auch für die Verwendung im Unterricht oder in der Projektarbeit für größere Kinder und Jugendlichen geeignet.

Nöstlingers Blick ist autobiografisch, es geht um ihre eigene “Kinderlandverschickung” kurz nach Kriegsende 1945. Zweck dieser Verschickungen war die Erholung der Stadtkinder bei Bauern und Bäuerinnen am Land für einige Wochen und vor allem das satt in den versorgungstechnich besser ausgerüsteten ländlichen Gegenden. Lebensmittel waren in der Stadt kaum vorhanden und die meisten Kinder litten an Unterernährung und Hunger.

© Illustrationen von Sophie Schmid aus „Der Überzählige“, G & G Verlag 2019

Irreführend ist für mich ein klein wenig die Verwendung des Begriffs “Kinderlandverschickung”, denn auch unter den Nazis wurden “arische Kinder” aufs Land in sogenannte KLV-Lager verschickt, wobei diese nicht Wochen, sondern Monate ohne Eltern an fremden Orten bleiben mussten. Die Forschungsliteratur ist diesbezüglich eher dürftig; ebenso verhält es sich mit den Verschickungen nach 1945 innerhalb von Österreich. In meinen Recherchen habe ich ein bisschen Material über Verschickungen nach Spanien oder in die Schweiz gefunden, nichts jedoch zu Österreich. Falls wer mehr dazu weiß: Nur zu! Wir freuen uns über alle Infos und Quellen in diese Richtung.

Wer auch immer in Nöstlingers Fall die Verschickung organisierte (denkbar ist z.B. das Rote Kreuz oder kirchliche Organisationen) oder wohin es ging: Dazu gibt es im Buch leider keine Angaben, was für die Geschichte irrelevant ist, mich aber doch brennend interessiert.

Die Kinder kriegen rosa Pappkarten um den Hals gehängt, darauf steht der jeweilige Namen und Ort der Verschickung. Die Situation im Zug ist einschüchternd und vielleicht auch traumatisierend, die anderen Kinder sind nicht wirklich freundlich. Die 8-jährige Ich-Erzählerin verliert plötzlich am offenen Zugfenster ihr Kärtchen und bleibt bei jeder Station sitzen, um erst bei der Endstation mit den restlichen Kindern auszusteigen. Wo genau sich die Kinder befinden, bleibt offen, vielleicht im Salzkammergut, vielleicht in Tirol. Der Bürgermeister des kleinen Orts nimmt 20 Kinder auf und keins mehr! Doch das fällt erst im Gemeindeamt auf, als sich jeder Bauer ein Kind aussuchen kann. Denn einer bleibt über – noch dazu mit roten Haaren, und weil Zurückschicken keine Option ist, findet sich doch noch ein Freiwilliger, der ihn zu sich nimmt. Ob die Menschen aus Solidarität und Hilfsbereitschaft handeln oder auf Druck der dörflichen Gemeinschaft – wir wissen es nicht.

Beschämend und herabwürdigend liest sich die Behandlung der Kinder in der Nöstlingers, und auch, wenn nach einigen Tagen Stadt- und Landkinder zueinander finden: “Der Überzählige” kommt aus seiner Außenseiterrolle nicht mehr raus. Und so macht die Ich-Erzählerin zwar bei den Schikanen gegen ihn nicht mit, aber geholfen hat sie “dem Überzähligen” nie.

“So viel Mut kann man von einer Achtjährigen, die ihre Angst nicht loswird, als ‘Überzählige’ entlarvt zu werden, auch nicht verlangen.”

Mit dem Schlusssatz erkennt man als erwachsene Leserin den (hoffentlich) heilenden Charakter der Erzählung für die Autorin, und denkt an die vielen starken und mutigen Persönlichkeiten in Nöstlingers Büchern, die Außenseiter_innen zur Seite standen und haufenweise an den Tag legten. Eine ungebrochen schöne wird dieser Sommer 45 für Nöstlinger nicht gehabt haben, umso mehr prägt sie später ihren unverkennbaren Schreibstil.

Der durchgängige, ganz in Rot- und Grautönen gehaltene Grafic-Novel-Stil der Illustrationen unterstreicht die Beklemmung und Tristesse der verarbeiteten Erlebnisse. Die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart finden sich in der Ausgrenzung von anderen, denn “Überzählige” gibt es heutzutage noch genügend.

Christine Nöstlinger & Sophie Schmid: Der Überzählige (GGVerlag), 19,95€


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