Der Wiener Achse Verlag widmet sich mit seinem Verlagsprogramm nun bereits seit längerer Zeit dem Thema Körper und Vielfalt. Dass das nicht immer einfach ist steht außer Frage, umso erfreulicher ist es, dass jede Saison neue Bücher hinzukommen. Denn: es gibt nicht das eine perfekte Buch zu einem Thema, sondern die Vielfalt ist wichtig. Gerade bei Büchern, die sich Themen widmen die gesellschaftlich mit Tabus und Scham beladen sind, bedarf es Bücher die sich unterschiedlich schnell herantasten – für die Vorlesenden und für jene, denen vorgelesen wird (oder mit denen gelesen wird).
„Was glitzert denn da?“ von Daria Locher und Patricia Stübin, erschienen im Juni 2023, ist das neueste „Körper“-Buch im Programm. Das Buch ist 55 Seiten lang und laut Verlag ab 8 Jahren gedacht. Und es reiht sich in die Reihe der Bücher, die versuchen neue Wege zu finden, um über den Körper ins Gespräch zu kommen.
Der äußere Eindruck. Optik und Haptik – ein Buch für die Sinne
Optisch fällt sofort die Farbgebung des Buches auf, sowie der Sonderdruck. Der Einband ist in einem leichten Fliederton und bereits die Menschen auf dem Cover fallen durch ihre unterschiedlichen Hautfarben auf. Das Buch hält dabei das Versprechen des Covers und auch auf den einzelnen Seiten sind Personen mit unterschiedlichsten Hautfarben, Frisuren, Haarfarben, Körperbauen, Haarstrukturen, … zu finden. Ebenso wie Brillen, ein Arm im Gips, Rollstühle und Prothesen. (Gerade die Haut ist mit vielen Farbschattierungen und Details dargestellt.)
Die Doppelseiten sind je in einer Hintergrundfarbe zwischen türkis, grün, rosa und blau gehalten und entsprechend sind die Kleidungen der Personen abgestimmt. Eine gute Strategie, um innerhalb des Buches über weite Strecken die Frage zu umgehen, ob sich in der Kleidung Hinweise auf das jeweilige Geschlecht der abgebildeten Person verstecken (müssen?).
Zusätzlich wurde in der Gestaltung des Buches Glitzerfolie eingesetzt und auf den einzelnen Seiten finden sich immer wieder kleine glitzernd-reflektierende Herzen. Dieses Gestaltungselement an sich könnte leicht in den Kitsch kippen und damit verbunden in Klischees und die Fallen des Gender-Marketings. In Verbindung mit den Farben und Zeichenstil wirkt es aber als eine liebevoll-bewusst gesetzte Ergänzung. Darüber hinaus ist es ein spannendes Spiel mit den Möglichkeiten die Haptik des Medium Buches zu erweitern/ändern.
Jede Menge Fingerspitzengefühl
Durch das Buch zieht sich konsequent eine wertfreie Haltung zum Körper, Gefühlen, Bedürfnissen und der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Es ist deutlich merkbar, dass im Entstehungsprozess sehr viel Wert auf Details gelegt wurde, auf Text- und Bildebene. Das Buch istOwie eine Art bebildertes Glossar aufgebaut -es sind jeweils Doppelseiten, die einem Überthema gewidmet sind. Diese Doppelseiten enthalten in den knappen Infotexten teilweise Verweise auf andere „Kapitel“, wobei die Themen nicht alphabetisch sortiert aufeinander folgen und die Seiten nicht nummeriert sind.
Interessant ist, wie damit umgegangen wird, keine unnötige Geschlechterdichotomien aufzustellen. Als Beispiel kann hier die Doppelseite über die Entwicklung (im Sinne des älter Werdens) hervorgehoben werden. Verschiedene nackte Personen zwischen Baby-Alter und hohem Alter stehen nebeneinander aufgereiht. Sie halten sich teilweise an den Händen und die knappen Erklärtexte umschreiben, was in den einzelnen Abschnitten des Lebens passieren kann („Im Alter zwischen elf und achtzehn Jahren entwickelt sich der kindliche Körper zu einem ausgewachsenen Menschen. Menschen lernen sich immer besser kennen.“, „Menschen erreichen ihre Ziele und sammeln Erfahrungen. Ein Wunsch könnte sein, Eltern zu werden.“). Diese Formulierungen umgehen Zuschreibungen hinsichtlich Geschlechtes und damit verbundenen Erwartungen. Zusätzlich unterstreichen sie, dass jeder Mensch unterschiedliche Ziele hat, Herausforderungen begegnet und sich Körper in unterschiedlichen Tempi entwickeln. Gerade im Teil über Pubertät fällt diese Art der Formulierung als sehr gelungen auf.
Hoch gesetzte Ziele
Gerade aber in diesen Stärken liegen auch die “Schwächen” des Buches – beziehungsweise das Stolpern über die hoch gesteckten Ziele.
Der Versuch alles korrekt zu bezeichnen
Im Buch werden (beinahe) durchgehend Fachtermini/anatomisch korrekte Bezeichnungen wie Uterus, Hymen, Zyklus, … verwendet. Das ist großartig, denn so werden Bezeichnungen wie „Gebärmutter“ umgangen, oder falsche irreführende Bezeichnungen wie „Jungfernhäutchen“. Das Buch setzt damit jedoch bereits bei potenziellem Vorleser*innen (bei einer Zielgruppe ab 8 Jahren sicher der Fall) voraus. Und viele der aktuellen Elterngenerationen sind selbst noch mit anatomisch inkorrekten Bezeichnungen sozialisiert worden, wenn man sich ältere Bücher ansieht oder an die eigene Aufklärung denkt. Hier könnte ein tatsächliches Glossar im Anhang Hilfe sein, um sich beim gemeinsamen Durchsehen des Buches souverän bei Nachfragen zu fühlen und schnell einzelne Begriffe nachzublättern.
Der Versuch alle Themen abzudecken
Beim Durchblättern des Buches hat man den Eindruck die einzelnen Seiten und Themen folgen einem losen roten Faden nach dem Prinzip, welche Frage als Reaktion auf das eben erklärte Detail folgen könnte. Und so folgt auf die Entwicklung, Veränderung in Form von Körperbehaarung und Körperflüssigkeiten (zwei sehr ästhetisch-künstlerische Interpretationen von anatomischen Details) und darauf wiederum Doppelseiten zu Geschlecht, Genitalien, Selbstliebe, Consent, Gernhaben, Lust und Sex.
Alles für sich genommen wichtige Themen, die Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters interessieren können, kennen sollten oder mit denen sie konfrontiert werden.
Gerade aber die Doppelseite zu Sex wirkt sehr aus Erwachsenenperspektive erklärt. So finden sich darauf zehn Abbildungen unterschiedlicher Sex-Positionen und Personenkonstellationen. Was fehlt ist die kindliche Perspektive auf Sex und kindliche Sexualität, in Form des Erkundens des eigenen Körpers. (Was wiederum wichtig ist als Ergänzung zu Consent, Berührungen die nicht in Ordnung sind, Einvernehmliche Berührungen unter Kindern etc.)
Man kann damit argumentieren, dass Kinder und Jugendliche mittlerweile immer früher mit pornografischen Inhalten konfrontiert werden und es schwierig ist zu kontrollieren wann das passiert. Durch die Darstellungen im Buch und die gezielte Thematisierung kann dies präventiv auf ästhetische kontrollierte Weise vorweggenommen werden, ehe falsche Erwartungen entstehen.
Ob man die einzelnen Sex-Stellungen aber mit dem (eigenen) Kind durchbesprechen will, oder dies ab 8 Jahren für Kinder bereits interessant ist, kann man als Frage in den Raum stellen. (Oder: vielleicht hat das Buch auf einzelnen Seiten eine ältere Zielgruppe – Teens die bereits kurz vor ihren möglichen ersten Sex mit Partner*innen stehen?).
Und ich will hier keineswegs die Diskussion um „Kindgerechtheit“ aufmachen – aus meiner Sicht, eine falsche und mittlerweile zunehmend politisch instrumentalisierte Scheindebatte, in der es selten um Kinder geht.
Die Sache mit dem biologischen Geschlecht
Ein deutlicher Wermutstropfen ist, dass die Seite zu „biologischem Geschlecht“ gut gemeint ist, sich hier aber gravierende Fehler im Detail einschlichen (vermutlich hätte es hier geholfen, trans und inter Personen einzubinden bzw. Sexualpädagog*innen mit einem entsprechendem Schwerpunkt). Unter anderem liest man die Formulierung „biologisch weiblich gelesen“ bzw „biologisch männlich gelesen“ in Verbindung mit der Erklärung, dass Chromosomen-Konstellation A, in Kombination mit Genital B biologische Geschlecht C bedeutet. Die Formulierung „gelesen als“ wird oft verwendet und ist mittlerweile nicht mehr ganz unbestritten. Sie ist ein Hilfsmittel, mithilfe dessen versucht wird, das Geschlecht/die Geschlechtsidentität von Personen zu benennen, ohne zu wissen, wie sie sich identifizieren. Das Problem dabei ist, dass es wie eine Umschreibung klingt, in Wahrheit aber schlichtweg eine Fremdzuschreibung bleibt. Womit es genau genommen nicht sehr viel anders ist als zu sagen, es sind Frauen/Männer/Mädchen/Jungen (und ein Misgendering zu riskieren – was in beiden Fällen passiert).
Gerade aber wenn es darum geht, dass anhand von Genitalien, Hormonen oder Chromosomen ein Geschlecht zugewiesen wird, ist es eine irreführende Formulierung. Denn Ärzt*innen sehen sich den nackten Körper bei der Geburt an und bestimmen, ob es die Genitalien eines Mädchens sind, oder eines Jungen, oder es nicht eindeutig genug bestimmt werden kann. (Ravna Marin Siever schreibt über die, wie Siever es formuliert, Beschauung und Zuweisung sehr ausführlich in „Was wird es denn? Ein Kind!“, Beltz und Gelberg 2022). Wenn man aber die Formulierung „gelesen als“ verwendet, bezieht es sich aus dem Linguistic Turn kommend auf das Erscheinen, den Habitus, allgemein das „Äußere“ (Kritik zur Formulierung hier in diesem Thread zusammengefasst) und versucht die Kategorie des biologischen Geschlechts anhand biologischer Merkmale zu umgehen.
Die Liebe zum Detail und dem Vergessenem
Ohne Zweifel ist das Buch ein wertvoller Beitrag zum Angebot der Körper- und Aufklärungsbücher; denn auch wenn in dieser Rezension nicht auf jedes Detail eingegangen werden kann, es steckt sehr viel Gutes, Wichtiges und Neues darin! (Zum Thema Geburt und Schwangerschaft finden unter anderem Fehl- und Stillgeburten Platz, aber auch, dass nicht jede Schwangerschaft ein Wunsch sein muss. Ebenso wie die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung, Schwierigkeiten schwanger zu werden und verschiedene Familienformen – bis hin zur Wahlfamilie)
Aus den Texten und Illustrationen erkennt man eine intensive und kritische Auseinandersetzung. Das Buch ist kein Versuch einem Trend zu folgen, sondern eine mögliche Lücke.
Resümee
Ich – bzw wir, denn ich habe mich mit Carla dazu ausgetauscht – bin mir unsicher, für welches Alter ich das Buch empfehlen würde. Vermutlich nicht ab 8 Jahren, falls man ein Buch zum gemeinsamen Durchblättern sucht. Vielleicht aber ab 8 Jahren, wenn im Alltag plötzlich Fragen auftauchen und einzelne Doppelseiten hilfreiche Anhaltspunkte sind fürs Er- und Aufklären. Für verschiedene Settings der Sexualaufklärung können die Doppelseiten perfekt sein – anatomisch korrekt und dabei immer noch schön und ohne langweiliger Schulbuch-Ästhetik.
Schlussendlich ist es aber wichtig zu entscheiden, womit man sich als Erwachsener beim Vorlesen wohl fühlt. Gerade bei Sachbüchern wie diesem, bei dem viele (persönliche) Fragen auftauchen können, die über das Buch hinaus gehen. Und möglicherweise ist das Buch eine gute Unterstützung sich zunächst mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Als Buch zum alleine Durchblättern eignet es sich aber auf jeden Fall auch für Teenager (auch als Erinnerung, dass nicht immer alles cool und klar sein muss).
Details zum Buch
Daria Locher und Patricia Stübin, “Was glitzert denn da? Ein Buch über Menschen, Körper, Wachsen und sich gern haben”, 2023, Achse Verlag (25 Euro)
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