Diverse Mädchenbücher: Starke Mädchen in der aktuellen Kinderliteratur

Dass in Kinderbüchern vor allem Jungs Abenteuer erleben und Mädchen, wenn überhaupt, passive Rollen zugewiesen bekommen, ist nichts Neues. Es gibt jedoch durchaus ein kleines und sehr feines Kontrastprogramm, das ich Euch gerne vorstellen will. Jede Saison wühle ich mich durch die aktuellen Verlagsprogramme, um die guten Geschichten zu finden. Jene, in denen vielschichtige, spannende und besondere Mädchencharaktere im Mittelpunkt stehen. Meine Ausbeute ist nie besonders groß, vor allem in Hinblick darauf, dass jedes Jahr etwa 9000 neue Kinder- und Jugendbücher erscheinen. Aber dafür ist diese Ausbeute besonders lesenswert.

Im letzten Halbjahr freute ich mich über eine recht diverse Mischung aus Heldinnen, darunter unter anderem eine Piratin, ein selbsternanntes russisches Bauernweib, eine, die für das Recht auf Bücher kämpft, und eine Prinzessin in Sari und Springerstiefeln. Drei der sechs Protagonistinnen (deutlich mehr als in meinen letzten Zusammenstellungen) weisen Vielfaltsmerkmale auf, die erfreulicherweise allesamt nicht im Mittelpunkt der Geschichten stehen. Vier der Mädchen sind weiß, zwei of Color, fünf sind able bodied, eine ist gehbehindert. Teilweise habe ich die Bücher gemeinsam oder synchron mit meiner 8,5-jährigen Tochter gelesen, einer sehr ambitionierten Leserin. Ihre Expertinnenmeinung (die oft sehr im Kontrast zu meiner steht) habe ich mit ihrer Erlaubnis eingearbeitet. 

Emilia und der Junge aus dem Meer

Zutiefst berührt und sehr nachhaltig gefesselt hat mich die märchenhafte und vollkommen zurecht preisgekrönte Geschichte rund um Emilia Wassermann aus dem Leuchtturmhäuschen. (Hinweis zum Inhalt: In diesem Buch kommen explizite Darstellungen von Gewalt gegen Kinder vor.) Das Mädchen, genannt „Lämpchen“, lebt dort seit dem Tod ihrer Mutter gemeinsam mit ihrem alkoholkranken Vater, der ihr viel zu viel Verantwortung aufhalst. Weil er nur mehr ein Bein hat und sich mit dem Treppensteigen schwer tut, ist Emilia dafür zuständig, jeden Tag das Licht des Leuchtturms zu entzünden. Eines Tages schafft sie es nicht rechtzeitig, der Leuchtturm bleibt dunkel. Das Unglück nimmt seinen Lauf: ein Unwetter zieht auf, ein Schiff zerschellt – dass der Leuchtturmwächter die Schuld dafür trägt ist klar. Er wird bestraft und Emilia weggebracht, schließlich ist sie ja schon alt genug zum Arbeiten. Ihren Fron soll sie im schwarzen Haus des mächtigen Admirals leisten, ausgerechnet dort, wo ein Monster wohnen soll.

Während die Geschichte trist und düster beginnt, wird sie im Laufe der Zeit immer positiver und hoffnungsvoller. Spannung kommt dabei nicht zu kurz. Im Mittelpunkt stehen unter anderem problematische Vater-Kind-Beziehungen, es geht um  Freund_innenschaft, Menschlichkeit und und ihre positiven Auswirkungen. 

„Du bist aus dem richtigen Holz geschnitzt, aus Heldenholz!“

Annet Schaap hat mit Emilia eine sehr besondere Heldin zu Papier gebracht: leise aber bestimmt. Auch die vielschichtigen Charakterzeichnungen der Nebenfiguren sind ihr hervorragend gelungen. Einige davon weisen Vielfaltsmerkmale auf, die Autorin kommt jedoch ohne klischeehafte Darstellungen aus. Ich möchte  dieses Spin-Off von Hans Christian Andersens kleiner Meerjungfrau unbedingt empfehlen. 

Was die 8jährige dazu sagt: (ACHTUNG SPOILER) „Das Buch ist traurig aber wirklich gut, es ist gruselig und abenteuerlich. Ich wünsche mir einen zweiten Teil von diesem Buch. Ich will unbedingt wissen, wie es Fisch im Meer ergeht und ob er seine Mutter gefunden hat. Und ich will wissen, ob Emilia wirklich Piratin geworden ist.“ 

Annet Schaap: Emilia und der Junge aus dem Meer
Illustriert von Karin Lindermann
Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
400 Seiten, 15 Euro, ab 10 Jahren
Thienemann-Esslinger, 2019

Hilja und der Sommer im grünen Haus

Hilja hat jede Menge wilde Ideen im Kopf. Die siebenjährige Finnin wohnt mit ihrer Patchworkfamilie („Als Mama und Papa sich kennengelernt haben, war Mama schon Mama, aber Papa war noch nicht Papa!“) neuerdings in einem alten, grünen Haus, das längstnicht fertig renoviert ist, mitten auf dem  Land. Die Eltern dachten, es sei eine gute Idee, aus der Stadt weg zu ziehen, aber ganz sicher sind sie nicht immer: die Umstellung verläuft nicht reibungsfrei. Die drei Töchter finden’s jedenfalls ganz gut.

Während Mama sehr viel im hauseigenen Frisiersalon arbeitet, ist Papa ständig als Musiker unterwegs. Zum Glück gibt’s den fürsorglichen Opa und drei freundliche Wahlomas, die den Schwestern allerhand Alltagsabenteuer ermöglichen. Hilja erklimmt Bäume, feiert Babykatzentaufen und führt als Agentin die kniffligsten Aufträge aus. Leider ist das Buch nicht durchgehend klischeefrei, problematisch ist vor allem, dass die Kinder unkommentiert „Indianer“ „spielen“ wollen (warum so etwas in zeitgemäßer Kinderliteratur keinen Platz haben sollte, habe ich hier zusammengefasst)

Die Autorin Heidi Viherjuuri ist selbst in einem kleinen Dorf in Südfinnland aufgewachsen, also dort, wo auch Hiljas grünes Haus steht. Sie porträtiert die skandinavische ländliche ^Sommeridylle: liebenswert aber authentisch und vor allem nicht kitschig. Die niedlichen Illustrationen von Nadja Sarell runden die Vor- und Selbstlesgeschichten ab. 

Heidi Viherjuuri: Hilja und der Sommer im grünen Haus
Illustriert von Nadja Sarell
Aus dem Finnischen von Tanja Küddelsmann
96 Seiten, 10 Euro, ab 6 Jahren
WooW Books, 2019

Was die 8jährige dazu sagt: „Es nicht das beste Buch, das ich gelesen habe, aber schon auch und gut. 

Frossja Furchtlos oder von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern

Frossja Korowina sieht sich selbst nicht wirklich als Mädchen. Wer sie als so bezeichnet wird korrigiert: „Ich bin ein waschechtes Bauernweib. Klar?“ Sie eifert damit ihrer schrulligen Großmutter Aglaja Jermolajewna nach, mit der sie gemeinsam auf einem uralten Holzbauernhof in der Pampa lebt. Ihre Eltern, laut Großmutter „vermurkste Intelligenzler“ sind derweil in aller Welt als Geolog_innen unterwegs und schicken manchmal Fotos. Stanislaw Wostokow erzählt charmant und voller Sprachwitz vom Alltag im Dörfchen Papanow. So fährt Frossja jeden Tag sechs Kilometer mit dem Rad in die Schule ins Nachbardorf Polewo, Henne, das sprechende Huhn, immer im Gepäckkorb mit dabei. In die Schule geht sie gemeinsam mit dem „natürlichen Einserschüler“ Petuchow und dem „natürlichen Dreierschüler“Shmychow, mehr Kinder wohnen nicht in der Gegend.

Weitere grandios dargestellte Figuren sind die wenigen Dorfbewohner: zum Beispiel der „Gewohnheitstrinker“ Nikanor, der sich geopfert hat, weil jedes Dorf einen Alkoholiker braucht und dem Frossja ein Dorn im Auge ist oder der korrupte Priester Vater Ignati, der gerne gegen Geld betet. Doch Alltag bleibt in der Geschichte nicht Alltag: Eines Tages beginnen sich die Vorkommnisse in Papanow zu überschlagen. Zuerst landet Aglaja Jermolajewna wegen eines Beinbruchs im kilometerweit entfernten Krankenaus. Daraufhin entsendet der entfernt verwandte Zauberer und Förster Filimon den sprechenden kaffeesüchtigen Bären Gerrasim, der Frossja im Haushalt helfen soll. Als dann auch noch Frossjas historisches Bauernhaus verschwindet, startet eine kuriose Rettungsaktion der drei  Schüler_innen: die Geschichte gipfelt in einem skurillen Traktorroadtrip in Richtung Freiluftmuseum. 

Frossja Furchtlos ist ein unglaublich schräges und sehr besonderes Kinderbuch, das einen Einblick in die zeitgenössische russische Kinderliteratur gibt. Davon würden wir gerne mehr lesen! Originell und spannend ist außerdem der kleine Exkurs zu russischer Holzbauernhausarchitektur im Anhang. 

Was die 8jährige dazu sagt: „Das Buch ist voll gut und wirklich lustig! Wie kann man nur ein Haus entführen? Die sprechenden sind cool und der Trinker echt gemein aber trotzdem macht es Spaß es zu lesen. Es ist eines meiner Lieblingsbücher.

Stanislaw Wostokow: Frossja Furchtlos oder von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern
Mit Illustrationen von Marija Woronzowa
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
176 Seiten, 14 Euro, ab 8 Jahren
Knesebeck, 2019

Ferien nur mit Papa

Die neunjährige Maja ist Rollstuhlfahrerin. Diese Tatsache ist im Buch aber erfreulicherweise nur ein Nebenschauplatz. Vordergründig geht es um eine nicht gerade einfache Vater-Tochter-Beziehung. Majas Vater hat in seinem Vaterdasein noch nicht sehr viel richtig gemacht, wohingegen Maja ständig versucht, alles richtig zu machen, nachsichtig zu sein und nicht frech. Sie lebt gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden und -fürsorgenden Mutter. Den Vater sieht sie selten. Wenn sie sich sehen, nennt er sie „Mausi“ und will von ihr „Daddy“ genannt werden. Beides findet sie eigentlich doof.

Als er sie eines Tages zu einem zwar an ihren Bedürfnissen ziemlich vorbeigehenden aber todschicken Urlaub einlädt, stimmt sie zu. Im Ferienhaus kommen sie allerdings nie an. Dank einer Autopanne und einem verlorenen Handy landen sie in einer verfallenen Hütte mitten im Wald. So kommt es, dass sich die beiden erstmals richtig miteinander auseinandersetzen müssen (beziehungsweise vielmehr der Vater mit seiner Tochter, ein Kind setzt sich zwangsläufig immer schon mit seinen Eltern auseinander, egal ob sie an- oder abwesend sind) und sich letztendlich auch annähern. Der Prozess wird als nicht immer einfach dargestellt.

Gudrun Mebs erzählt davon feinfühlig und auch humorvoll. Dennoch macht die Lektüre durchaus wütend: auf abwesende, egozentrische und ignorante Väter, von denen vermutlich zahlreiche Kinder ein Lied singen können.

Was die 8jährige dazu sagt: Mir hat das Buch nicht gefallen. Der Papa war immer nur genervt und unfreundlich. Es ist kein Stück lustig.“

Gudrun Mebs: Ferien nur mit Papa
Mit Illustrationen von Catharina Westphal
144 Seiten, 12 Euro, ab 8 Jahren
Fischer Sauerländer, 2019

Das Geheimnis des Schlangenkönigs (Kiranmalas Abenteuer 1) 

Kiranmala lebt in einem Reihenhaus in New Jersey, findet ihre Eltern, die einen Expressmarkt besitzen, oft seltsam, hängt gerne mit ihrer Freundin Zuzu ab und trägt am liebsten Kapuzenpullis. So weit, so normal. Wie aus dem Mädchen an seinem zwölften Geburtstag eine Prinzessin in lila Sari und gleichfarbigen Springerstiefeln („Ich weiß, es ist ein bisschen ironisch, wenn man meine allgemeine Einstellung Prinzessinnen gegenüber bedenkt.“) wird, die in einer Paralleldimension sabbernden Rakkhoshe (ziemlich ekelhafte und sehr hungrige Dämonen) und mächtige Schlangen bekämpft, sich mit Prinzen und Stallmeisterinnen anfreundet und mit Baumgeistern und spucknapfessenden Halbmenschen konfrontiert wird, erzählt Sayantani DasGupta in ihrem rasanten Debütwerk „Das Geheimnis des Schlangenkönigs“: ein Fantasyabenteuer für Teenager, humorvoll und voller Knalleffekte – und ein gelungenes Stück #diversekidlit.

„Für alle eingewanderten Eltern und Kinder überall – die sich vorstellen, dass eine Idee durch das Erzählen von Geschichten nach Hause geholt werden.“ Jenen widmet die Autorin ihr Buch. Sie selbst ist als Kind indischer Immigrant_innen in den mit Märchen und Kindergeschichten aus Westbengalen  aufgewachsen. Ihre eigene Geschichte konnte sie nur mit diesen Geschichten verstehen, genau davon handelt auch ihr erstes Buch: Kiranmala muss erst das Land ihrer Eltern (allerdings in Form einer Paralleldimension) erforschen, um sich selbst richtig zu verstehen. Ihre Idee hat die Autorin, die Teil der Initiativen We Need Diverse Books, Kidlit Writers of Color und Desi Writers ist, brilliant umgesetzt. Wie schön, dass Kiranmalas erstes Abteuer auch auf dem deutschsprachigen Markt erschienen ist. Das zweite folgt übrigens demnächst.

Sayantani DasGupta: Das Geheimnis des Schlangenkönigs (Kiranmalas Abenteuer 1)
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
320 Seiten, 16 Euro, ab 11 Jahren
Carlsen, 2019

Amy und die geheime Bibliothek

„Niemand außer deinen Eltern hat das Recht zu entscheiden, welche Bücher du lesen oder nicht lesen darfst.“ Der Meinung der Grundschulbibliothekarin schließt sich die neunjährige Vielleserin Amy an. Leider sehen das in ihrem Umfeld nicht alle Menschen so. Als sich Amy eines Tages zum wiederholten Male ihr Lieblingsbuch ausleihen will, muss sie feststellen, dass es aus der Schulbibliothek verbannt wurde. Es bleibt nicht bei nur einem fehlenden Werk. Der Elternbeirat, angeführt von einer offenbar mächtigen Mutter, lässt Buch für Buch aus den Regalen verschwinden. Als ungeeignet für Grundschüler_innen, respektlos und unmoralisch empfindet der Elternbeirat diese Titel (darunter unter anderem „Gilly Hopkins – Eine wie keine“, „Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna“, „Harry Potter“ und „Matilda“).

Amy liebt Lesen über alles, Bücher sind ihr Überlebenselexier. Um gegen diese absolute Ungerechtigkeit und die Willkür der Mächtigen anzukämpfen, muss sie ihre Schüchternheit überwinden und über sich hinauswachsen. Der Autor Alan Gratz hat einen mutigen und inspirierenden Charakter erschaffen. Ziemlich cool ist außerdem, dass er mit Amy ein Schwarzes Mädchen (und seine Familie, die vielbeschäftige Mutter, den beim Kochen opernsingenden Vater und die nervigen beiden Schwestern) porträtiert.

Die Geschichte rund um Amy, die sich (erfolgreich!) gegen Zensur einsetzt, hat einen wahren Kern. In den werden tatsächlich jedes Jahr zahlreiche Beschwerden eingereicht, deren Ziel es ist, Bücher aus den Bibliotheken zu verbannen. Alan Gratz ist es ein Anliegen, darüber zu informieren und festzuhalten, dass es ein Menschenrecht ist, die Bücher zu lesen, die man lesen will, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Dies ist ihm mit seinem Werk gelungen. Ein starkes Plädoyer für Mut und Widerstand – und für Bücher. 

Was die 8jährige dazu sagt: „Ich finde Amy mutig, und das Buch sonst ganz normal.“

Alan Gratz: Amy und die geheime Bibliothek
Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel
248 Seiten, 15 Euro, ab 9 Jahren
Hanser, 2019

Die aus dem letzten Herbst/Winter gibt es übrigens hier zu finden:


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