Jetzt ist alles, was wir haben

Achtung! Im Buch finden sich z.T. heftige Gewaltszenen, die unter Umständen Auslöser für Angstreaktionen sein können.

Ich habe das Buch mehr oder weniger in Einem durch ausgelesen. Es ist ein recht komplexes Jugendbuch, und kann damit interessierten Leser_innen ab ca. 14 Jahren empfohlen werden. Gleichzeitig ist es ein schockierender Roman über die Abgründe von Gewalt gegen Kinder und durch den eigenen Vater, der als absoluter Herrscher über die Familie bestimmt.

Unterschiedliche Erzählstränge springen von “damals” zum “jetzt” und wieder zurück, und fördern ein differenziertes Bild der Hauptprotagonistin Hadley zu Tage, die von ihrem Vater seit Jahren gedemütigt, gequält und heftig misshandelt wird. Die Mutter schaut dabei tatenlos zu, selbst Opfer des Ehemanns. Ihren Kummer ertränkt sie in Wein und der Anhäufung von Sachen, denn die Familie ist reich, wohlsituiert und nach außen hin perfekt. Die Gewalt des Vaters manifestiert sich an einer Sportsucht und der Angst selber wieder fett zu werden, wie früher in seiner Kindheit und Jugend. So trainiert er seiner Tochter absoluten Gehorsam an und geht damit weit über deren Belastbarkeitsgrenzen hinaus. Selbst Verletzungen durch das Übertraining sind ihm herzlich egal. Hadley macht alles mit, um die Erwartungen ihres Vaters zu erfüllen, und diesem keine Gelegenheit zu bieten, seine Wut an ihr auszulassen. Vor allem aber schützt sie durch die Überangepasstheit ihre kleine Schwester Lila.

Bald erkennt Hadley, dass der Vater beginnt Lila ebenfalls zu seinem sadistischen Training zu zwingen, und Hadley muss erkennen, dass sie die kleine Schwester nicht ausreichend schützen kann. Im Zuge eines Urlaubs bricht der Vater der kleinen Schwester den Arm. Hadley fasst daraufhin einen Plan, und emanzipiert sich radikal aus der Rolle des passiven Opfers – nie wieder sollen weder Mutter noch Schwester unter dem Vater leiden.

Ein atemloser, grausamer Roman über Gewalt im Familienkontext, die erste große und deren Empowerment für Hadley, die sich durch Freund Charlie endlich einmal geliebt und angenommen fühlt. Spannend bis zur letzten Seite hinterlässt dieses Buch viele Fragen: Warum hat niemand was gesagt? Warum verharrt die Mutter so in ihrer Rolle als passive, gequälte Frau, die sich dem Schutz ihrer Töchter verweigert? Warum hatten zwar LehrerInnen, die Trainerin oder auch FreundInnen über lange Zeit einen Verdacht, werden aber nur wenig aktiv? Und nicht zuletzt: Warum schweigt selbst Hadley bei Vertrauenspersonen wie ÄrztInnen oder LehrerInnen, die auf ihrer Seite sind und sie konkret auf ihren Vater und seinen Sadismus ansprechen?

Niemand muss Gewalt ertragen. Alle Menschen, einschließlich Kinder und Jugendliche, haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und psychische wie physische Gesundheit. Gewalt in der Erziehung ist strafrechtlich verboten. Ein Ende der Gewalt erfordert oft Mut, Stärke und Courage von allen Beteiligten. Niemand muss schwierige Lebenskrisen ganz alleine meistern. Daher: Wenn du von Gewalt betroffen bist, hol dir Hilfe.

Amy Giles: “jetzt ist alles, was wir haben” (cbj-Verlag)

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