Bilderbuchdemokratie?

Ein Gastbeitrag von Stefan Schmid-Heher, Hochschullehrer für Politische Bildung und Vorleser zweier Kinder in Wien.

Anlässe zur Auseinandersetzung mit Demokratie finden sich eigentlich in sehr vielen Kinderbüchern. Wenn Zusammenleben und die damit verbunden Probleme und Konflikte zur Sprache kommen (oder auch einfach ausgeblendet werden), können stets Möglichkeiten „sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen“ zum Thema werden. Die drei vorgestellten Bücher möchten ganz ohne Umwege Gelegenheit zur kindgerechten Auseinandersetzung mit Demokratie bieten. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass auch ein Kinderbuch fachlicher Expertise und kritischer Reflexion bedarf. Ein Anspruch, der viele Herausgeber_innen und Autor_innen zu überfordern scheint.

Jetzt bestimme ich!

„Meisterlich spielt Juli Zeh verschiedene Familien-Szenarien durch und erklärt ganz nebenbei, wie Demokratie funktioniert oder auch nicht …“, kündigt der Carlsen Verlag auf seiner Homepage an. Vielmehr zeigt das Buch ebenso eindrücklich wie ungewollt, wie Demokratie besser nicht erläutert wird. Während das Scheitern eines Versuchs in der Demokratie durchaus lehrreich sein kann, sind es die mehr oder weniger unterhaltsamen Episoden dieser Geschichte leider nicht.

Zweifelsohne kann Demokratie in der Familie nicht ohne die öffentliche oder staatliche Sphäre und natürlich die zahlreichen damit verbundenen Konsequenzen für das Familienleben verstanden werden. Schon bloße Schlagwörter wie Arbeitswelt, Kinderbetreuung oder Sozialleistungen lassen keinen Zweifel daran, wie politisch Familie ist und wie sehr politische Entscheidungen und damit auch die Art und Weise des Zustandekommens dieser Entscheidungen das Familienleben bestimmen. Um diese Ebene der Demokratie als Herrschaftsform geht es in diesem Buch nicht. Die Wiefels, eine „ganz normale Familie“ mit Mama, Papa, Tochter und Sohn, können sich in dieser Geschichte ausschließlich um sich selbst kümmern. Die dargestellte Lebenswelt beschränkt sich im Wesentlichen auf die Gestaltung der Familienfreizeit (Schwimmbad, Tierpark oder Gartenarbeit), die Auswahl des Abendessens (Pommes, Nutella oder Rollmöpse) und die Aufteilung des Einfamilienhauses. Weder Zeit noch Geld spielen eine Rolle.

Lassen wir diese Umstände mal außen vor. Schließlich geht es offensichtlich nicht um Gesellschaftskritik, sondern um eine vielschichte Auseinandersetzung mit „Demokratie in der Familie“, wie die Redaktion einleitend anmerkt. Grundlegende Unterschiede zwischen der Entscheidungsfindung in der Familie und in größeren Gemeinwesen dürfen dabei nie außer Acht gelassen werden. Dennoch: Das innerfamiläre „Streiten und Vertragen, … Bestimmen und Mitbestimmen“ kann zumindest teilweise auch abseits gesellschaftlicher Machtverhältnisse unter demokratischen Vorzeichen betrachtet werden. Wie teilen sich die Erwachsenen die und Verantwortung auf? Wie werden die Familie betreffende Entscheidungen gefällt? Wie wird mit den Bedürfnissen von Familienmitgliedern umgegangen? Diese und weitere Fragen werden thematisiert – allerdings an denkbar ungeeigneten Beispielen. Welche „ganz normalen“ Eltern kämen denn bitte auf die Idee, die siebenjährige Tochter alleine in den Tierpark zu schicken und den kleineren Bruder mit der Jause zurückzulassen, weil Ihnen selbst nach Pilze sammeln bzw. Aussicht genießen ist? In welcher „ganz normalen“ Bilderbuchfamilie stehen fast Tag für Tag Pommes und Nutella als Abendessen zur Debatte? Es gäbe genug herausfordernde Situationen in einem Familienalltag, an denen sich das Zusammenleben problematisieren ließe. Nicht nur die Auszüge aus dem Familienleben der Wiefels drehen „ins Absurde“, so die Formulierung der Redaktion. Auch die unterschiedlichen Möglichkeiten der Entscheidungsfindung in diesen Situationen sind reichlich grotesk. Dass der oder die schnellste Läufer_in entscheidet, ist wohl genauso sinnbefreit, wie die Wahl einer Familienregierung. Wenn diese „Regierung“ nur eine Mehrheit hat, weil der Kleine einfach Mama und Papa wählt und seine Stimme dann kommentarlos doppelt zählt, bleibt von den Ansprüchen des Buches eigentlich nichts mehr übrig.

Juli Zeh: Jetzt bestimme ich, ich, ich!
Illustriert von Dunja Schnabel
48 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahren
Carlsen 2020

Wer tanzt schon gern allein? Bilder, Geschichten und Gedichte zur Demokratie

Der Titel macht Lust auf eine vielfältige Auseinandersetzung und verspricht einen abwechslungsreichen, kindgerechten Sammelband zu einem Thema, das sich wohl auch für Erwachsene nie erschöpft. Die 25 Beiträge, die von wenigen Zeilen bis einige Seiten variieren, umfassen fiktive Kurzgeschichten, realistische Erzählungen, nachdenklich machende Gedichte, gewitzte Comics und bemerkenswerte Illustrationen. Die allerwenigsten davon erscheinen allerdings für jüngere Leser_innen oder gar Kinder im Vorlesealter, an die sich das Buch auch richtet, zugänglich bzw. gar empfehlenswert. Auch erwachsene Leser_innen bleiben teils eher ratlos oder sogar verstört, als angeregt und reflektiert zurück. Exemplarisch sollen einige Beiträge hervorgehoben werden, um ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden

Unter dem Titel „Küchentischgedanken“ schildert Antje Damm die Gedanken einer Mutter, die Ihrer 14jährigen Tochter erklären muss, warum sie – aufgeweckt, informiert und engagiert – im Gegensatz zum 67jährigen Nazi-Nachbarn nicht wählen darf. Sowohl das, als auch der Umstand, dass die Mutter in ihrem inneren Monolog zum Schluss kommt, dass ihr der Nachbar trotz allem leid tut und er schließlich nichts für seine geringe Bildung könne, schafft nicht ganz einfache, aber grundsätzlich willkommene Gesprächs- und Reflexionsanlässe über Demokratie.

„Die Mutter von Jossel“ von Heinz Janisch und Aljoscha Blau handelt von der Abwesenheit von Demokratie unter den Nazis. Die ergreifende Geschichte beginnt mit der rückblickenden Erzählung von einem Dorfjungen mit einer Intelligenzminderung und vielen Talenten, der sich auffällig verhält. Der Junge, Jossel, wird von allen gemocht, aber hat keine Freunde. Mit der zunehmenden Hetze und Militarisierung verstärkt sich der gesellschaftliche Ausschluss Jossels. Nach einem Brand verschwinden die Mutter und er plötzlich. Jossel wird ermordet und die Mutter kehrt ins Dorfleben zurück, wo sie fortan allein tanzt. (Der Titel des Bandes verweist auf diese Geschichte.) Die kurze Erzählung ist aufwühlend und dabei der Realität des unermesslichen Leids angemessen, ohne den bzw. die Leser_in zu überwältigen.

Spannend zu lesen, sehr gut geschrieben und dennoch irgendwie auch fehl am Platz in einem (Kinder-)Buch über Demokratie 2020 ist die sehr persönliche Erzählung „Mage mishe?“ (dt.: Ist es möglich?) von Mehrnousch Zaeri-Esfahani und Mehrdad Zaeri. Beide Autor_innen flohen 1985 aus dem Iran nach Deutschland und schildern aus kindlicher Perspektive das „Wunderland“ und Paradies“ Deutschland, in dem sogar die Hunde wie Menschen behandelt werden, als Antithese zum Iran. Die Geschichte dürfte heute allzu vielen gut gefallen und dabei allzu wenige Jugendliche und Erwachsene zum Nachdenken anregen – zumindest angesichts der politischen und gesellschaftlichen Mehrheiten gegen einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen in Europa. Heute ist das alles ungefähr so lange her, wie damals, als die Familie in Deutschland ankam, die Ermordung Jossels zurücklag.

Keinen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit Demokratie leistet die Feststellung in Versform („Sieben Milliarden“ von Jochen Mariss und Tobias Krejtschi), dass der Klimawandel ein Ergebnis des Handelns von sieben Milliarden Menschen wäre und nun ebenso viele einen „winzig kleines bisschen“ dazu beitragen müssten, diesen einzubremsen. Müsste doch zu schaffen sein … Hier werden die Machtverhältnisse auf dieser Erde gleich mehrfach in problematischer Weise verkannt.

Ratlos lässt einem auch die märchenhafte Geschichte „Gut gebrüllt, Löwe“ (Andrea Liebers, Sebastian Meschenmoser) zurück. Ein einfacher Hase gerät grundlos in Panik und glaubt, die Erde würde auseinanderbrechen. Alle anderen Tiere lassen sich mitreißen und rennen in Panik auf das Meer zu. Zum Glück bemerkt das der König Löwe, der schneller rennt und lauter brüllt als alle anderen, um die Situation dann ganz besonnen und dank seiner Autorität wieder in den Griff zu bekommen. Ende gut, alles gut. Es bleibt schleierhaft, welche Reflexion über Demokratie daran anknüpfen könnte.

Einen zumindest zweifelhaften Beigeschmack im Kontext mit der nicht immer gelungenen Auseinandersetzung mit Demokratie im Buch hinterlässt das Vorwort des deutschen FDP- Landespolitikers Joachim Stamp ebenso wie das Nachwort der Herausgeberin Karin Gruß. Stamp beginnt sein knappes Statement mit der Feststellung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und landet wenige Zeilen später bei der Aufforderung, den Erhalt von Demokratie und Menschenrechten zu verteidigen. Die Herausgeberin reflektiert in ihrem Nachwort: „Es mussten jedoch erst hunderttausende Zuwander*innen kommen, um mir darüber bewusst zu werden, wie wenig selbstverständlich es ist, für diese Ziele zu ringen …“. Diese Sätze mögen eine Berechtigung haben, doch wer in einem (Kinder-)Buch wenige kommentierende Zeilen über Demokratie zu schreiben hat und in diesen, wenn auch vordergründig positiv, auf Bezug nimmt, sollte sich die Frage stellen, vor welchen Herausforderungen er bzw. sie die Demokratie eigentlich sieht. Eine Frage, der in der Konzeption des Buches sowie in einzelnen Beiträgen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden hätte sollen.

Karin Gruß (Hg.): Wer tanzt schon gern allein?: Bilder, Geschichten und Gedichte zur Demokratie
212 Seiten, 22 Euro, ab 7 Jahren
Peter-Hammer-Verlag 2020

Im Dschungel wird gewählt

Den Dschungeltieren reicht es. König Löwe hat seine Macht ausgenutzt und die Affen dazu gebracht, den Fluss für ein vor seiner Höhle umzuleiten. Aus einer Demonstration entwickelt sich der Wunsch nach einem neuen „Anführer“, einer neuen „Anführerin“, der bzw. die von allen Tieren gewählt werden soll. Es werden Wahlregeln aufgestellt, Wahlkämpfe organisiert und schließlich Stimmen abgegeben. Das gelassene, umsichtige und auf Zusammenhalt und Interessenausgleich bedachte Faultier wird Präsidentin.

Die kurzweilige Geschichte ist auch zum Vorlesen sehr gut geeignet und thematisiert einige Grundlagen demokratischer (Wahl-)Auseinandersetzungen, die allerdings auch – oder gerade – in der Diskussion mit Kindern kritischer Reflexion bedürfen. Ausgangspunkt ist ein Herrscher, der sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. Die Unzufriedenheit des Volkes führt zu einer Demonstration und mündet schließlich in der Ausrufung einer Demokratie und der Durchführung einer Wahl. König Löwe korrigiert seinen überheblichen Kurs und kandidiert schließlich auch selbst. Dabei verhält er sich ganz mustergültig und lauscht zum Schluss der Rede der neu gewählten Präsidentin. Das gibt es eigentlich nicht einmal im Märchen. Dafür wird der Affe „disqualifiziert“ und seine Stimmen für ungültig erklärt, weil er gegen eine Wahlregel („Bestechung mit Geschenken ist verboten.“) verstößt und Bananen verteilt. Der Affe ist auch der einzige Kandidat, der mit „Wir bauen Höhlen und Häuser für alle“ mit einer politischen Forderung in den Wahlkampf zieht. Die anderen setzen stattdessen auf ihre adelige Herkunft (Löwe), ihre Bodenständigkeit (Schlange) oder ihren edlen Charakter (Faultier). Der Wahlkampf wird als klassisches Campaigning erzählt, wobei die Kandidatinnen und Kandidaten zwischen Fernsehauftritten, Selfies mit dem Wahlvolk und Podiumsdiskussionen unerlaubterweise sogar schlecht übereinander sprechen. Warum das verboten sein sollte, bleibt allerdings unklar, denn in den Wahlregeln steht nur, dass „Gegner nicht aufgefressen werden dürfen“.

So gut es klingt, dass Kinder in Workshops die Dschungeltiere gespielt haben und damit die Geschichte mitgestaltet haben: Im Buch widerspiegeln sich vielfach gleichermaßen konformistische wie weit verbreitete Demokratievorstellungen. Dabei wären kritische Perspektiven ein viel wichtiger Beitrag zum Demokratielernen, als die Reproduktion von Inszenierungen. Einiges schief gegangen ist wohl auch bei der Übersetzung des brasilianischen Originals. Das präsidentielle System (Präsident_in und Vize im Mittelpunkt der Macht) lässt sich zwar nicht wegübersetzen, doch auch das eigens für den deutschen Sprachraum adaptierte Glossar strotzt vor Fehlern: Weder in Österreich noch in Deutschland ist der/die Präsident_in auch Regierungschef_in, die Gesetze machen noch immer Parlamente und nicht Regierungen und für ein Regierungsamt wird dafür niemand gewählt. Dem Buch hätte etwas mehr kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit Demokratie gut getan, denn ganz so kinderleicht ist das alles eben nicht.

Larissa Ribeiro, André Rodrigues, Paula Desgualdo , Pedro Markun: Im Dschungel wird gewählt: So funktioniert Demokratie
48 Seiten, 15 Euro, ab 5 Jahren
Prestel 2020

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