Revolution an der Bushaltestelle

Eine Bushaltestelle. An dieser eine Oma mit Einkaufstasche, ein miesmutig dreinblickender, konservativ gekleideter älterer Herr, ein Erwachsener in Sportjacke (so ein „Altersloser Nicht-Mehr-Jugendlicher“ zwischen 25 und 40) und zwei Halbwüchsige, sie mit großem A aufm Pulli, er mit zweifarbigem Halstuch. Die Teenies unterhalten sich, er zu ihr: „Wir weg, die Bullen hinterher.. ..und dann“. Der konservative Herr beginnt, sich aufzuregen: „Undankbare Chaoten, Anarchisten! Pfui!“ Die Jugendlichen zu dem Herrn:
Kleine Geschichte des Anarchismus, Antwort: „So, so! Wir sehen also aus wie Anarchisten?“, und: „Du weißt doch gar nicht, was das ist!“

Und dann beginnt sozusagen das erste Kapitel, gebildet aus 6 Doppelseiten, die sich jeweils einem Themenbereich widmen (Was ist Anarchismus | Diffamierung des Anarchismus | Libertäre Erziehung | Libertäres Wohnen | Libertäre Musik | Utopische Literatur).
Vielfach bebildert sowohl mit den durch dieses Kapitel führenden Jugendlichen als auch mit den Text konkret unterstreichenden Bildern, werden hier in gut verständlichen Sätzen die Grundideen des Anarchismus erklärt und mit Beispielen, historischen Personen und Ereignissen verbunden. Das Kapitel schließt mit einer einseitigen Einstiegs-Literaturliste zum Weiterlesen – und wir sind wieder bei unserem Grüppchen an der Bushaltestelle.

Großartiger Spin, diese Überleitung zum nächsten Kapitel:

Geschichte des Anarchismus: Die Oma will nun Strömungen erklären

Es folgen acht Doppelseiten, in denen – wiederum in gut verständlichen, witzig bebilderten Kurzerklärungen – diverse Strömungen des Anarchismus vorgestellt werden: Individualanarchismus | Mutualistischer Anarchismus | Kollektivistischer Anarchismus | Kommunistischer Anarchismus | Anarchafeminismus |Anarchosyndikalismus | Gewaltfreier Anarchismus | Neuere Diskurse und Anarchie versus Marxismus, sowie anschließend wieder eine Literaturliste.

Offensichtlich ist an der Bushaltestelle unser Grüppchen nun in ein richtig interessiertes Gespräch vertieft, und auch der Sportjackentyp hat noch ein Kapitel beizutragen. Er ergänzt das Wissen der Jugendlichen und der Oma um Aspekte anarchistischer Geschichte, von der Pariser Kommune 1871 bis zur heutigen globalisierungskritischen Bewegung. Was der brummelige alte Herr mit diesem unfreiwillig-neugewonnenen Wissen macht, will ich euch hier im Blog nun noch nicht verraten, aber so viel ist gewiss:

Dieses großartige, witzig-informativ aufgemachte Buch mit der herrlichen Bushaltestellen-Verbindungsstory kann ich all denen von euch, die ihr eigenes Wissen über Anarchismus schon immer mal über „irgendwas mit totaler Freiheit und maximaler Herrschaftskritik“ hinausbringen wollten, nur sehr dringend ans Herz legen. Und für Kinder und Jugendliche circa ab 10, 12 Jahren, die sich mit gesellschaftspolitischen Sinnfragen beschäftigen, erst Recht aber für Jugendliche ab ca. 14, die gerade ihr inneres „Revoluzzerpotential“ erkunden, ist dieses Buch meiner Meinung nach super geeignet (sollten Tests an lebenden Subjekten anderes ergeben, würde ich dies selbstverständlich nachtragsweise hier ergänzen..).

Bechdel-Test: Da durch ein Kapitel die Oma führt, die sich mit ihrem Wissen über anarchistische Strömungen explizit an die beiden Jugendlichen richtet, und sie in dem Kapitel definitiv nicht die ganze Zeit über Männer redet ;-), besteht dieses Buch natürlich den Bechdel-Test.

PS: Ja, aber darf man Jugendlichen und gar 10- bis 12-Jährigen denn SO ein Buch geben? Die sind doch noch SO jung? Stülpt man ihnen dann nicht eine Meinung über?
Nun, im „Erziehungssinne“ halte ich es da gern mit einer Äußerung des kritischen kanadischen Mathematiklehrers David Stocker, der in einem Interview, das Lena Rohrbach, Andreas Pittrich und ich mit ihm 2011 für die Zeitschrift unerzogen führten, sagte: „Der Einwand impliziert, dass es neutrale Arten der Erziehung gibt, dass bestimmte Herangehensweisen in Sachen Erziehung irgendwie unpolitisch sind. Das ist natürlich absurd […] Eltern treffen am laufenden Band Entscheidungen für ihre Kinder […]. Nur ist es so, dass Entscheidungen, wenn sie mit dem Status quo konform gehen, als neutral durchgehen, aber andere Entscheidungen, die von der Norm abweichen, für ideologisch gehalten werden.“ (unerzogen 4/2011, S.31)

Cover von Kleine Geschichte des Anarchismuss aus dem Verlag GraswurzelrevolutionUnd – völlig altersneutral – möchte ich anschließen: Mir erscheint es wichtig und äußerst hilfreich, vertieftes Wissen zu bloßen Schlagwörtern zu haben, und das gilt meiner Meinung nach natürlich und gerade auch für kritische politische Bewegungen.Natürlich ist es schon beim Lesen und dann auch über das Buch hinaus sehr sinnvoll, mit anderen im Gespräch zu sein und sich auszutauschen, nachzufragen, bei Interesse gegebenenfalls weiterzulesen und sich ein weiteres – auch aus verschiedenen Perspektiven beleuchtetes – Bild nicht nur von anarchistischen, sondern von vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Organisationsformen zu machen.

Ach, und ein Letztes möchte ich noch anmerken: Ich habe dieses Buch bei einem nicht-globalisierungskritischen Einkauf in einer Filiale einer großen Bücherladenkette erstanden, was sicherlich politisch irgendwie nicht so ganz korrekt von mir ist. Ich finde aber, dass es ziemlich großartig ist, dass die dort für die Comic-Buchabteilung zuständige Buchhändlerin solche Bücher mit ins Regal einschleust. Man könnte ja meinen: Fast schon subversiv! 😉

Findus, Kleine des Anarchismus. Ein schwarz-roter Leitfaden. Verlag Graswurzelrevolution 2010.

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