Reale Fiktion, fiktionale Realität: Königin des Sprungturms von Martina Wildner

Ich habe nun fast vier Monate darüber nachgedacht, wie ich diese Rezension angehen soll – und ich glaube, in diesem Fall muss ich einsteigen mit einem vorangestellten

tl;dr:

Ein sprachlich-stilistisch toll gearbeitetes, inhaltlich fesselndes und noch dazu extrem authentisches Buch. Es geht hier nicht um pubertierende Prinzessinnen, die sich die ganze Zeit die Fußnägel lackieren und über Handtaschen-Shopping nachdenken, sondern um zwei zwölfjährige Sportlerinnen, ihren Alltag und um eine sich im Handlungsablauf dramatisch entwickelnde, sehr persönlich erzählte Jugendgeschichte über Freundschaft und den Mut zu eigenen Entscheidungen. Zum meiner Meinung nach circa ab 11 geeignet, zum Vorlesen für sehr sportaffine Kinder aber auch schon circa ab 8.

Aber vielleicht möchten es ja einige doch genauer wissen – hier die ausführliche Rezension.

Wildner_KoeniginDesSprungturms_BeltzGelbergTurmspringen ist eine zwar relativ bekannte, aber doch ausgefallene Sportart. Man kann sie nicht überall trainieren. Wer in als Kind damit anfängt, wurde mit großer Wahrscheinlichkeit zu Beginn der ersten Klasse in einer Grundschule der sechs deutschen Leistungsstützpunkte gesichtet. Das heißt: Eingeladen zu einem Probetraining, und zwar – bei allem Spaß – in einem leistungsorientierten Trainingszentrum, in dem es letztlich von vornherein in der langfristigen Perspektive darum geht, Leistungssportler für einen Kadersport zu rekrutieren. Welch furchtbares Vokabular. Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern so läuft es in den meisten Fällen tatsächlich. Und so ergeht es auch den beiden Hauptpersonen in dem feinen, ganz großartigen Buch von Martina Wildner:

Zwei ganz normale Mädchen, die in einer ganz normalen Hochhaussiedlung wohnen, eine, Karla, allein mit ihrer Mutter. Die andere, Nadja, mit ihrer russischen Mutter, ihrem älteren und ihrem aus beruflichen Gründen (er arbeitet auf einer Bohrinsel) nur via Skype anwesenden Vater. Nachbarinnen, Schulkameradinnen seit der ersten Klasse, beide: gesichtet.
Beide damit Turmspringerinnen, weil sie eben diesen Zettel bekommen hatten, und so geht es für sie weiter, selbstverständlich, und irgendwann sind sie eben an der Sportschule, fünfte, sechste, siebte Klasse. Der Lauf der Dinge. Alles ganz normal.

Dieses herrlich unprätentiös geschriebene Buch zeigt ganz wunderbar die Subjektivität von Selbstverständlichkeiten, indem es in manchmal allzu heftig realistischer Weise den Alltag zweier zwölfjähriger Leistungssportlerinnen beschreibt. Einen Alltag, der neben der Schule aus täglichem mehrstündigem Sporttraining besteht, auch in den Ferien. Aus Selbstdisziplin und Anstrengung. Für die beiden Mädchen ist das, was für die meisten, von außen betrachtet, keinesfalls ein normaler Kinderalltag ist, eben seit Jahren selbstverständlich. Ihr ist die Normalität derer, die dabeibleiben.

Das Buch, geschrieben in der Perspektive der Nadja, gewährt damit eine beeindruckende Inneneinsicht in die „normale Welt des Leistungssports“ am konkreten Beispiel des Turmspringens. Sportinteressierte erfahren in diesem sauber recherchierten Buch auch viel über die Sportart selbst – über Sprungformen, Wettkampfabläufe,…Mindestens bezogen auf diese Sportart dürfte es das erste fiktionale Buch überhaupt sein, dass diese Verknüpfung versucht, und ich finde dies angesichts der Dominanz mancher Sportarten über andere (alle kennen die rudimentären Fußballregeln, um ein Beispiel zu nennen), gewissermaßen einen gelungenen Coup der Sportförderung.

Martina Wildner lässt ihre Nadja nun aber keineswegs nur vom Sport erzählen; der Sport, das Turmspringen, ist vielmehr einfach die tragende, eben selbstverständliche Basis der Geschichte, die mit großer Freundschaft und starker Trauer, Jugendliebe, Elternliebe und Vertrauen klassische Themen der Jugendliteratur behandelt. Es geht im Kern vor allem darum, bewusst Entscheidungen fürs eigene zu treffen. Und bis zum Ende bleibt es spannend, sowohl in den sportlichen wie auch in den emotional-freundschaftlichen Strängen der Geschichte.

Besonders beeindruckt hat mich aber nicht die schlüssig erzählte Geschichte selbst, sondern die penible Genauigkeit der Autorin: Denn das Buch stimmt. Ich habe alles erkannt. Ich kannte das Freibad, in dem die Mädchen im Sommer auf dem Sprungturm standen. Ich kannte die Hecken und den Zaun und die Überlegungen, wo ein Hinüberklettern vielleicht ja doch möglich sein könnte, aber die Security… Ich wusste genau, an welchem Bahnsteig die Mädchen waren, als sie umsteigen mussten, und mit welcher Tramlinie sie zwangsläufig fuhren an einer der dramatischsten Stellen des Buches. Versteht mich nicht falsch, die Geschichte selbst braucht keinen Ort, sie funktioniert ohne derlei Benennungen. Aber wer hier in dieser Stadt wohnt und sich zufällig mit diesem Sport auseinandersetzt, erkennt: Alles.

In der fiktionalen Schwimmhalle, in der die Mädchen nach all den Jahren des Trainings fast schon leben, ist der Fußboden auch in der Realität genauso wie im Buch beschrieben. Die Sammelgarderobe der Mädchen hier ist wirklich meistens die 9 (manche bevorzugen auch die 8 oder die 10), wenngleich die Sportschüler dann irgendwann später Spinde in anderen Hallenbereichen haben. Der Getränkeautomat hat akkurat die Macken, die Martina Wildner augenzwinkernd beschreibt, die eine Trainerin hebt tatsächlich als größtes Zeichen der Anerkennung den Daumen, und die Mütter in der Garderobe und auf der Tribüne führen auch im echten exakt (aber zum Glück nicht nur) die albernen Gespräche, die Martina Wildner so perfekt nachzeichnet. Ich weiß das, denn ich bin eine von ihnen.

Ich habe dieses Buch im vergangenen Sommer mit meiner Tochter gelesen, als die Sprunghalle hier vor Ort aufgrund von Bauarbeiten geschlossen und sie deshalb kreuzunglücklich war. Es war regelrecht skurril, dieses Buch zu lesen, da es so nah an ihrem zu sein schien. Fiktionale Realität. Ich konnte das mir freundlicherweise als Rezensionsexemplar von Beltz & Gelberg überlassene Buch aus genau diesem Grunde auch lange nicht rezensieren – es war schlicht und ergreifend zu nah an mir, an meiner eigenen andauernden inneren Auseinandersetzung mit dem unfreiwillig in mein Leben getretenen Thema Leistungssport. Denn Ich habe mir diesen Sport nicht ausgesucht, völlig selbstverständlich. Und – im Gegensatz offenbar zu den Eltern, die ihre Nebenrollen im Buch angenehm beiläufig ausfüllen – mir hat es schon einiges abverlangt, die Wahl meines Kindes, wie lange sie auch immer anhalten mag, so anzunehmen.

Warum? Wohl auch wegen der dann erforderlichen Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen. Martina Wildner gelingt es, die beiden Mädchen und die anderen in dem Buch vorkommenden jugendlichen Sportler tatsächlich als völlig normal zu zeigen. Nicht als komplette Überflieger, aber auch nicht als tumbe Sportler und Sportlerinnen, die eben nur eines können: ihren Sport. Das ist doch zumindest in der „studierten Intellektuelleria“ meiner Meinung nach ein gewisses Vorurteil – Anerkennung findet, wer toll Instrumente spielen oder mehrere Sprachen sprechen kann, aber so viel Zeit in körperliche Auseinandersetzung mit sich selbst zu stecken, wird doch eher gering geschätzt, zumal, wenn man doch auch andere Talente entwickeln könnte. Das ist doch gewissermaßen verschwendete Energie, wenn man auch mit dem Kopf arbeiten könnte… Und immer das drohende Risiko, von der Sportschule zu fliegen und die Zeit damit gewissermaßen verschwendet zu haben.

Ich hatte diese Vorurteile und Sorgen durchaus auch selbst – und manche sind noch da und werden vielleicht auch bleiben. Zu groß ist als Eltern die Sorge, dass bei einem Leistungssportleben Enttäuschung in jedem Fall vorprogrammiert sein muss, im Falles des Erfolgs durch die Entbehrungen des Lebens ebenso wie im Falle des Misserfolgs, die zu eigenem oder, schlimmer noch, fremdbestimmtem Trainingsstopp führen.
Wildners Buch, aber auch ein von ihr verfasster Essay zum Thema Leistungssport, den die mir freundlicherweise nach Kontaktaufnahme zur Verfügung stellte, haben ihren kleinen Teil dazu beigetragen, dass ich meine in vieler Hinsicht eher kritisch-skeptische Haltung zum Thema Leistungssport in manchen Aspekten weiter überdenke. Die Akzeptanz von Leistungsport als frei gewählter Lebensoption ist auch durch dieses Buch für mich: ja, wieder ein bisschen selbstverständlicher geworden.

Fazit:

Ein fesselndes Jugendbuch der wirklich besonderen Art, das noch lange zum Nachdenken und Weiterdenken anregt. Zu Recht im Herbst 2014 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.

Martina Wildner, Königin des Sprungturms. Beltz & Gelberg 2013.

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